In Ludwigsburg jährt sich in diesem Jahr ein sehr bedeutsames Ereignis: Am 9. September 1962 hielt Charles de Gaulle vor 20.000 Zuhörer*innen im Innenhof des Residenzschlosses seine »Rede an die deutsche Jugend«. Zukunftsgewandt und äußerst positiv findet der ehemalige französische Staatspräsident Worte der Freundschaft, um nach der verfeindeten Kriegsvergangenheit ein geeintes Europa zu stabilisieren. Die Aussöhnung beider Nachbarländer wurde kurze Zeit später durch den Élysée-Vertrag besiegelt. Um diesen Frieden aufrechtzuerhalten, verlange es laut de Gaulle viel Arbeit – von Seiten der Regierung auf wirtschaftlicher, politischer und kultureller Ebene, von Seiten der Jugend auf individuell sozialer Ebene.
Es zeugt von einer positiven Entwicklung, dass sich die deutsch-französische Freundschaft seither vertieft hat und die beiden Länder weit davon entfernt sind, eine Bedrohung füreinander und Europa darzustellen. Doch die Wunden Europas sind nie ganz verheilt und klaffen dafür an anderen Orten. In Osteuropa gab es seit dem Zweiten Weltkrieg einige Konflikte und Kriege. Vor zwei Jahren begann die Widerstandsbewegung in Belarus, die immer noch anhält und ihren schmerzlichen Tribut fordert. Gleichzeitig erschüttert Wladimir Putins Militäroffensive auf die Ukraine seit Februar die Welt. Will Europa auf dem stabilen Fundament von Freundschaft und gegenseitiger Achtung stehen? Oder wird einer solchen ideellen Stabilität eine politische Festung vorgezogen, die sich abschottet? Hilfesuchende Menschen auf der Flucht haben Europa 2015/16 vielerorts eher als Letzteres erleben müssen. Zwar haben sich Charles de Gaulles Zukunftswünsche für Deutschland und Frankreich bewahrheitet, auf gesamt-europäischer Ebene gibt es jedoch noch viel zu tun.