Dem Buch ist ein Vorwort der belarussischen Dichterin Valzhyna Mort vorangesetzt, die eine aktive Anteilnahme an der politischen Lage in Belarus und vor allem eine klare europäische Solidarität einfordert: »Nach dem, was seit August hier geschieht, sollte Belarus für niemanden in Europa ein fernes Land sein. Dies ist die Geschichte der Gegenwart, die sich mitten auf dem europäischen Kontinent ereignet.« Diese Geschichte dokumentiert Vitali Alekseenok in seinem Buch und beginnt mit dem Juni 2020, als er in Deutschland über die internationale Presse von den beginnenden Protesten und der Verhaftung von Viktar Babaryka und Sergej Tichanowski erfuhr. Neben diesen beiden Männern wollte sich auch Waleri Zepkalo in der anstehenden Präsidentschaftswahl gegen Alexander Lukaschenko als Kandidat aufstellen lassen, ihre Registrierung wurde jedoch nicht angenommen. Stattdessen wurden sie durch Maria Kalesnikava, Swetlana Tichanowskaja und Veronika Zepkala vertreten. Dieses starke Oppositionstrio wurde zum politischen Symbol für die Friedensbewegung. Ihren Protest führten sie mit einer entschlossenen Faust (Tichanowskaja), einem entwaffnenden Peace-Zeichen (Veronika Zepkala) und einer hoffnungsvollen Herz-Geste (Maria Kalesnikava) an und beteiligten sich an den friedlichen Demonstrationen. Um die Gewalttaten zu stoppen, mit denen die Regierung im August 2020 auf die Proteste reagierte, boten sie dem Regierungsstab einen Dialog an. Jedoch war die Sprache Lukaschenkos eine der Gewalt, die er durch ein verschobenes, propagandistisches Narrativ zu legitimieren suchte. Unabhängigen Wahlbeobachter*innen wurde der Zutritt sowohl für die vorzeitige Stimmabgabe ab dem 4. August als auch für die eigentliche Präsidentschaftswahl am 9. August verwehrt. Regierungsfreundliche Wahltagsbefragungen verkündeten, dass 79,9 Prozent der Stimmen an Lukaschenko und 6,8 Prozent der Stimmen an das Oppositionstrio um Swetlana Tichanowskaja gegangen seien – ausländische und unabhängige Befragungen ergaben hingegen ein umgekehrtes Bild: 79,7 Prozent für die Opposition, 6,2 Prozent für Lukaschenko. Auch die Europäische Union erkannte das Wahlergebnis nicht an und sprach ihm »jegliche demokratische Legitimität« ab. Das Internet wurde vom 9. bis zum 12. August im ganzen Land lahmgelegt, um die Verbreitung von Informationen und die Organisierung von Lukaschenko-Gegner*innen zu unterbinden.
Womit die Regierung jedoch nicht rechnete: Fast ganz Belarus erwachte aus dem gelähmten und ohnmächtigen Zustand, in dem sich das Land – zumindest aus Alekseenoks Perspektive – seit dem Amtsantritt Lukaschenkos 1994 befand. Die Demonstrationen ergossen sich über die Straßen von Minsk und weiteren Städten. Allesamt waren sie friedvoll. Es formten sich kreative, bunte, hoffnungsvolle Formen des Protests; Musik und Kunst entstanden daraus, die »Energie der Solidarität« füllte die Herzen der Belaruss*innen, die sich ein friedliches und demokratisches Land wünschten. »Der Hässlichkeit der Gewalt setzten sie Liebe und Schönheit entgegen. Und das hatte einen größeren Effekt: Durch ihren stillen Protest weckten sie die innere Kraft der Menschen. Sie waren lauter als das tausendstimmige Dröhnen der vorbeifahrenden Autos oder der schreckliche Lärm von Schockgranaten. Das Weiß ihrer Kleidung im Widerschein der Augustsonne leuchtete hoffnungsvoll und reinigte uns von den blutigen Erfahrungen der vergangenen Tage«, schreibt Vitali Alekseenok in seinem Buch.
Mit Wladimir Putins Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 verlagerte sich der öffentliche Fokus auf den dortigen Krieg. In dessen Schatten konnte der belarussische Präsident seinen antidemokratischen Kurs vertiefen. So ließ er nahezu unbemerkt per Referendum entscheiden, dass ihm – ähnlich wie Putin – eine Amtszeit bis 2035 möglich und zudem eine völlige Straffreiheit zugesichert sei, sollte er wider Erwarten das Amt früher verlassen. Mittlerweile findet die belarussische Friedensbewegung nicht mehr in Form von Massendemonstrationen auf den Straßen des Landes statt. Zu groß sei die Gefahr, in Gefangenschaft zu landen, so Swetlana Tichanowskaja, die im Mai dieses Jahres neben Kalesnikava und Zepkala den Internationalen Karlspreis zu Aachen für ihre Verdienste für die Einheit Europas bekam. Auch Maria Kalesnikava geriet ins Fadenkreuz des Regimes und wurde 2020 inhaftiert und schließlich zu skandalösen 11 Jahren Haft verurteilt. Stattdessen finde der Widerstand nun im Untergrund statt. Das Gesicht der mutigen Friedfertigkeit und Unschuld hat die Bewegung jedoch nicht verloren. Tichanowskaja ist sich sicher, dass der demokratische Wandel stattfinden und Lukaschenkos Regime enden wird.
Vitali Alekseenok
»Die weißen Tage von Minsk«
ISBN 978-3-10-397098-2