Günter Baumann ist seit 2013 Mitarbeiter in der Galerie Schlichtenmaier und seit mehreren Jahren geschäftsführender Mitgesellschafter. Die Galerie blickt auf eine über 50-jährige Geschichte zurück und hat ihren Stammsitz im Schloss Dätzingen in Grafenau. Vor 22 Jahren wurde sie um einen zweiten Standort in Stuttgart erweitert. Der Fokus der Galerie liegt auf der Kunst der vergangenen 100 Jahre, insbesondere auf bedeutenden Künstler*innen der klassischen Moderne wie Adolf Hölzel, Oskar Schlemmer, Adolf Fleischmann, Max Ackermann, Johannes Itten und Ida Kerkovius. Das Programm spannt so einen Bogen von der Avantgarde über die Kunst der 1960er-, 70er-, 80er-Jahre bis hin zur Gegenwartskunst, die aktuell ausgestellt wird. Seit diesem Jahr arbeitet die Galerie Schlichtenmaier mit den Ludwigsburger Schlossfestspielen zusammen und präsentiert in diesem Rahmen Fotografien von Vera Mercer in der Alten Porzellanmanufaktur im Residenzschloss Ludwigsburg. Anlässlich dieser Kooperation haben wir mit Günter Baumann über die Ausstellung und über das Werk von Vera Mercer gesprochen.
Wie kam die Kooperation mit den Ludwigsburger Schlossfestspielen zustande?
Manchmal hat man den Eindruck, es gäbe schicksalhafte Fügungen. Als Herr Reuter den Plan fasste, eine Kunstausstellung zu etablieren, kam er wahrscheinlich über unser Programm auf Vera Mercer, die ihn wohl auch spontan begeisterte. So kamen wir in ein inspirierendes Gespräch, das der Beginn dieser Kooperation war, die mich ganz glücklich macht und die auch das Programm der Galerie ein bisschen nach außen bringen kann. Die Schlossfestspiele haben ja einen ganz anderen Wirkungskreis, das ist natürlich eine tolle Sache für uns.
Kam die Entscheidung, die Vera-Mercer-Fotografien dieses Jahr auszustellen, schnell oder gab es noch andere Optionen?
Die Idee hatte Herr Reuter schon relativ fest im Blick und wir haben das gerne aufgegriffen. Uns ist erst durch diese Überlegungen Vera Mercers Potenzial bewusstgeworden, welches wir mittlerweile auch bei unterschiedlichen Ausstellungen bemerken. Es hat sich dann der Plan ergeben, die Kooperation jährlich weiterzuführen. Das stellt uns natürlich vor die Herausforderung, dass wir auch in Folge ein adäquates Werk finden. Es wäre gut, wenn man nicht bei der Fotografie bleibt, sondern auch die Malerei miteinbezieht, um sich nicht von vornherein auf eine bestimmte Gattung festzulegen.
Stillleben auf einem Festival voller Musik – klingt erstmal widersprüchlich. Wie passt das dennoch zusammen und welche allgemeinen Verbindungen, glauben Sie, gibt es zwischen Musik und Bildender Kunst?
Die Musik als Thema drängt sich bei Vera Mercer nicht auf. Das Stillleben ist in seiner Tradition relativ klar definiert, aber es finden sich doch interessante Elemente, die gut in das Gesamtkonzept der Schlossfestspiele passen. Vera Mercer hat selbst ursprünglich eine Tanzausbildung absolviert. Ihr Vater war ein recht berühmter Bühnenbildner und ihr erster Ehemann Daniel Spoerri war Regieassistent am Theater. So kam sie auf jeden Fall mit der Bühne in Kontakt. Dieses Bühnenerlebnis bringt sie in das Stillleben ein. Sie arrangiert die Dinge nicht traditionell wie in der klassischen Stillleben-Malerei, sondern schafft tatsächlich eine Art Bühne mit einer speziellen Kulisse, die sie auch digital dazu schaltet. Sie inszeniert alles in der Form, dass es auch sichtbar wird, und gibt jedem einzelnen Gegenstand eine Rolle, die in ein Ensemble überführt wird. Darin sehe ich tatsächlich eine Nähe zum Inszenatorischen. Auch ihre gewählte Farbenpracht hat etwas Theatralisches, oft sogar Filmisches. Das von ihr eingesetzte Kerzenlicht verstärkt diese Wirkung – es erzeugt eine Bühne aus Licht, einen regelrechten Farbklangraum. Wenn etwa ein Fisch mit einer Blume korrespondiert, wirken die Elemente zunächst unverbunden – doch sie arrangiert sie so, dass daraus eine überzeugende Inszenierung im Klangraum entsteht. Zusätzlich fügt sich ihr Werk wunderbar in das Barockschloss Ludwigsburg ein, das nicht nur die Ausstellung, sondern auch die Schlossfestspiele atmosphärisch umgibt. Vera Mercers Fotoarrangements stehen in einer direkten Beziehung zum Barock, insbesondere das niederländische 17. Jahrhundert hat viele Stillleben hervorgebracht: Küchenstillleben, Jagdstillleben und andere differenzierte Formen, die sich auch in ihrer Arbeit widerspiegeln.
Wie würden Sie die Ästhetik von Vera Mercer beschreiben?
Sie ist eine sehr gute Beobachterin. Dies ist in der Freundschaft und engen Beziehung zu Spoerri und all den Künstler*innen der Nouveaux Réalistes in Paris verwurzelt. Auf Einladung Tinquelys fotografierte sie die Gruppe. Aber nicht als Außenstehende, sondern sie kannte alle persönlich und hat sozusagen mit ihnen gelebt. Sie hat beobachtet. Das war eine Phase ihrer Fotografie, als das Stillleben in ihrem Werk noch gar nicht geboren war. Aber es war dieser Hintergrundblick, der in voller Kenntnis der Personen und des Zusammenhalts ihrer Verbindungen zu einer einerseits distanzierten und zum anderen unmittelbaren Choreografie führte. Das hat sie in den Stillleben dann fortgeführt. Ihre Ästhetik lässt sich in drei Akten beschreiben: der Beobachtung, dem Arrangement sowie der Fotografie und digitalen Bearbeitung.
Vera Mercers Fotografien werden oft als neo-barocke Stillleben betrachtet: Was ist unter Neo-Barock zu verstehen?
Gute Frage. Da muss man auf die Geschichte zurückgreifen. Im 17. Jahrhundert brachen alle bisherigen Formen einer einheitlichen Kunst zusammen. Der Begriff Barock ist eigentlich der erste Epochenbegriff, der sehr fraglich ist: die niederländische und die italienische Kunst des 17. Jahrhunderts kann man beispielsweise überhaupt nicht miteinander vergleichen, Europa hatte kein einheitliches Kunstverständnis mehr. Ich finde diese Zerrissenheit im 17. Jahrhundert interessant, in der einerseits das Wissen explodierte und der Globus weiter erkundet wurde, andererseits die Religionen sich auf mystischen oder radikalen Pfaden bewegten. Im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelt sich dann, so meine ich, tatsächlich wieder eine Form der Zerrissenheit und wir erleben wieder eine Welt im Umbruch, gegenwärtig mehr denn je. Meinem Eindruck nach haben die Künste die Möglichkeit, auf solche Dinge zu reagieren. Ob das später als Neo-Barock oder ganz anders bezeichnet wird, wird sich zeigen. Diese Entwicklung des 17. Jahrhunderts und der heutigen Zeit finde ich in vielem zwar nicht direkt vergleichbar, aber ähnlich aufrührerisch. Und vielleicht liegt es auch ganz unsentimental an dem Thema Stillleben, das heute nur noch mit einem dramatischen Ansatz gesehen werden will. Vera Mercer selbst spricht von einem Drama in ihren Bildern, das sie gezielt inszeniert.
Auf welche Weise überführt Vera Mercer barocke Motive in einen zeitgenössischen Kontext? Allein durch die Fotografie als Medium oder auch in den Bildern selbst?
Die Wahl für die Fotografie ist eine Distanzierung von klassischen Medien wie Malerei oder Zeichnung. Hier ist man schon ein Stück näher in der Gegenwart, da sich natürlich auch die Technik in der Fotografie entwickelt, ebenso die Brillanz der Arbeiten. Die Bildauflösung liegt bei Millionen von Pixeln, da kommt die herkömmliche Fotografie gar nicht mehr mit. Vera Mercer nutzt modernste Ausrüstung und wirft gleichzeitig, und das finde ich ganz interessant, einen Blick zurück in die Vergangenheit. Ihre Schwarz-Weiß-Stillleben greifen bewusst einen Stil des 19. Jahrhunderts auf, wirken aber durch ihre Eigenart und Verfremdung zeitlos und gegenwärtig.
Es wird auch oft bei Vera Mercer von einer Neuinterpretation des Vanitas-Motivs gesprochen. Finden Sie, man kann von einer Neuinterpretation reden? Und wenn ja, auf welche Art und Weise drückt sich das in den Fotografien aus?
Vanitas, das Sinnbild der Vergänglichkeit, ist ein zentrales Motiv des Stilllebens seit dem 16. und 17. Jahrhundert. Diese Chiffren tauchen zwangsläufig in einem Stillleben auf: die verwelkten Blumen, Gläser, die zerbrechen können, die toten Fische, aber Vera Mercer kommt es nicht primär darauf an. Das merkt man in einem Segment ihres Werks, in dem tatsächlich morbide Tierleichen abgebildet werden, die auch schon einen gewissen Grauton haben. Da erschrickt man zuerst und denkt sich, whow: das ist jetzt aber schon Hardcore. Man könnte jedoch sagen, dass Mercers Form des Stilllebens im Wesentlichen weniger die Vergänglichkeit betont, sondern – pathetisch gesprochen – den Triumph des Daseins, dem irgendwann ein Ende folgt.
Wie würden Sie die Resonanz auf Vera Mercers Fotografien beschreiben? Erleben Sie eher einheitliche Reaktionen der Besucher*innen oder ergeben sich daraus ganz unterschiedliche Betrachtungsweisen?
Vera Mercers Fotografien wurden bei uns zuerst im Rahmen einer Gruppenausstellung zum Thema Blumen gezeigt und fanden dort eine sehr positive Resonanz. Einige Arbeiten wurden dort verkauft. Aufgrund erschwerter Wege über die USA kamen größere Einzelausstellungen zunächst nicht zustande. Erst mit der Ausstellung in Waiblingen über das »Essen in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts« wurde erneut Interesse geweckt. Besucher*innen zeigten sich begeistert von den Beiträgen Vera Mercers und wollten sich damit auseinandersetzen. Parallel dazu schafft die Ausstellung bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen nun einen viel größeren Wirkungskreis.
Was waren die Beweggründe für die Wahl der Alten Porzellanmanufaktur als Ausstellungsort? Handelte es sich um eine rein logistische Entscheidung – oder folgte die Wahl auch einem inhaltlichen Konzept?
Es wurde ein Raum innerhalb des Schlosskomplexes gesucht, der aber extern nutzbar ist. Die Alte Porzellanmanufaktur steht uns hierfür zur Verfügung. Aufgrund der historischen Bausubstanz darf an den Wänden nicht genagelt werden, daher wurde eine Lösung mit Stellagen in den Fensternischen entwickelt. Ich bin selbst noch gespannt, wie es genau aussehen wird. Bisher habe ich nur Skizzen im Vorfeld gesehen. Am Ende wird Platz sein für sechs großformatige und sechs kleinere Arbeiten. Das klingt erst einmal nicht nach viel, aber der Raum wird damit durchaus gut gefüllt sein. Die Werke brauchen durch ihre barocke Wirkung und Präsenz einen gewissen umgebenden Raum.
Die Vera-Mercer-Motive haben oft ein sehr großes Format. Die Alte Porzellanmanufaktur ist ein eher kleiner Raum. Wie beeinflusst der Ausstellungsraum die Wahrnehmung und die Wirkung?
Ich hoffe, dass es wirkt. Es gibt drei Größen: Die kleineren Arbeiten für die Zwischenräume sind etwa 60 auf 80 Zentimeter. Die mittlere Größe liegt ungefähr bei einem Meter auf 1,50 Meter. Dabei gibt es sowohl Hoch- wie auch Querformate. Die größten Formate, etwa 2 Meter, wären für den Raum zu dominant und hätten nur begrenzt Platz. Daher fiel die Wahl auf die kleineren und mittleren Formate, von denen ich hoffe, dass ihre Wirkung groß ist. Ich bin selbst gespannt, weil ich es mir in dieser Dichte und in diesem Raum erstmal nur mit meiner Fantasie ausmalen kann. Ich werde sehen, ob die Fantasie so gut ist, dass es nachher auch erlebbar wird. Wenn es zu viel ist, könnte man gegebenenfalls auch eine Arbeit rausnehmen, aber ich denke schon, dass es passt.
Wird es eine dramaturgische Idee für die Anordnung der Bilder geben?
Ich werde versuchen, Dialoge zu schaffen. Ich glaube, der Klangraum wird sozusagen durch die Bilder gefasst. Ich werde auch darauf Acht geben, dass die wenigen Hochformate so platziert sind, dass ein bisschen Raum um die anderen entsteht. Es geht tatsächlich darum, den Raum gut zu füllen. Die Bilder als solche korrespondieren gut miteinander. Die erwähnte morbide Seite von Vera Mercers Schaffen habe ich ausgeklammert, denn die Leute wollen ein Klangerlebnis haben und brauchen dazu auch einen positiven Impuls. Und, wie gesagt, tote Tiere sind dennoch drin und wollen entdeckt werden.
Haben Sie ein Lieblingsbild von Vera Mercer und wenn ja, warum gerade dieses?
Ja, meine Favoriten wandeln sich so ein bisschen im Laufe der Zeit. Anfangs war es die Arbeit »The Table«, weil der Hinter- und der Vordergrund besonders offensichtlich zusammengestellt und arrangiert sind. Auf dem Bild finden sich Trauben, die im Verhältnis zu den anderen Dingen auf der Fotografie riesig sind. Man hat sozusagen die Frucht vor Augen. Inzwischen fasziniert mich der geheimnisvolle Ton wie in »Flowers in our Apartment«, bei dem das Kerzenlicht eine zum Teil irritierende, zum Teil auch befremdliche Wirkung bringt, weil das Licht dadurch artifiziell wird. Aber auch das Werk »Big Bouquet« erfreut mich, wenn ich es in der Größe von 1 Meter auf 1,40 Meter vor mir sehe. Es hat eine unheimliche Tiefe und das dunkle Moment wird dann plötzlich belebt durch ganz viele Dinge. Das könnte schließlich mein Lieblingsbild werden. Insgesamt habe ich mich ein bisschen in das Gesamtwerk von Vera Mercer verliebt und erkenne in allem diesen Zauber, diese immer wieder überraschenden surrealen Momente. Zuerst guckt man hin und sagt, na gut, das ist halt irgendwie ein Stillleben, wie man es so macht. Aber dann stehen plötzlich Besteckteile da oder ein Fisch liegt in einem Glas, der da eigentlich überhaupt nicht hingehört. Das sind Arrangements, die Überraschungen bieten, und das finde ich toll. Wenn die Leute wirklich hinschauen, werden sie ein Erlebnis nach dem anderen haben. Das wird auch für mich eine Freude, weil ich viele Arbeiten bisher nur am Bildschirm gesehen habe. Ich glaube, es wird ein großes Schauerlebnis in einem besonderen Ambiente.
Die Bildwelt des Festspielsommers im Schloss Ludwigsburg
Zur Ausstellungseröffnung am 1. Juni um 17 Uhr laden wir Sie herzlich ein. Auch bei unseren Veranstaltungen im Ordenssaal, Schlosstheater und in der Schlosskirche des Residenzschloss Ludwigsburg öffnen wir die Alte Porzellanmanufaktur eine Stunde vor Beginn des Konzerts.
Ein weiteres Highlight sind die Auftritte der Violinistin Rakhi Singh, die am 14. Juni bei drei Konzerten den Fotografien Vera Mercers eine sensorische Komponente hinzufügt – zuweilen mit hypnotisch-meditativer Wirkung. Lassen Sie sich überraschen!